Zielvorgaben
Gedanken über Erwartungshaltungen, Leistungsdruck und gerechte Beurteilungen
Als Schüler konnte ich mich noch so gut auf Klassenarbeiten vorbereiten, oft reichte es am Ende trotzdem nur für eine Drei, manchmal eine Zwei, ganz selten mal für eine Eins. Nachdem ich bei einem deutschen Englischlehrer lange auf einer Vier gestanden hatte, verbesserte ich meinen Schnitt bei einem Nativespeaker, einem Engländer, auf eine Zwei. Wie konnte das sein? - Ausgerechnet in einem Jahr, in dem ich für das bei mir nicht besonders beliebte Fach Geschichte so gut wie nichts getan hatte, erhielt ich darin auf dem Zeugnis eine Eins. Auch das konnte ich mir nicht erklären. Was ist angemessen, verdient, gerecht? Wo liegt die Verantwortung für Erfolg und Misserfolg? Warum hat Oliver Pocher Erfolg und ich nicht?
Ergebnisse korrelieren nicht immer mit den Anstrengungen, die man dafür auf sich genommen hat. Manchmal kann man sich anstrengen, so sehr man will, und kommt dennoch auf keinen grünen Zweig. Und manchmal macht man keinen Finger krumm, und der Erfolg fliegt einem zu wie eine gebratene Taube in den Mund. Im Gegenteil, manchmal sind besondere Anstrengungen, eine gewisse Verbissenheit oder Ehrgeiz geradezu kontraproduktiv und fehl am Platze. Sie führen zu einer Verkrampfung, und das Scheitern ist vorprogrammiert. Meine besten Leistungen erziele ich mit Dingen, die mir einfach so zufallen, die keiner besonderen Mühe bedürfen, und ich erachte das Erreichte auch gar nicht unbedingt als Leistung, sehe nicht als Arbeit an, was doch auch - wenigstens zum Teil - Arbeit ist. Das funktioniert am besten bei den Dingen, in denen ich nach meinen eigenen Vorgaben handele, sofern ich mir überhaupt welche mache. Oft gehe ich an selbstgestellte Aufgaben mit dem einzigen Ziel heran, dass nachher etwas besser ist, als es vorher war. Oder ich nehme mir vor, z.B. 70% von etwas zu schaffen und freue mich nachher, wenn es 85% geworden sind. Und noch mehr freue ich mich natürlich, wenn ich von unerwarteter Seite dafür auch noch Anerkennung ernte. Gartenarbeiten, das Üben von Vokabeln oder das Spiel eines Musikinstruments zu erlernen sind Anwendungsfelder für dieses Vorgehen. Ich erziele - unabhängig vom Urteil von Profis und vermeintlichen Experten - Verbesserungen und bin damit und mit mir zufrieden. Der Blick auf die, die es besser können, vielleicht sogar mit geringerem Aufwand, ja mit scheinbarer Leichtigkeit, entmutigt, frustriert und drückt die Motivation. Erfolgsrezepte muss man sich selbst erarbeiten und kann man sich in der Regel nicht einfach irgendwo abgucken.
Im
beruflichen Umfeld abhängig Beschäftigter kommen die Erwartungen
von außen. Die einen fühlen sich dadurch angespornt, beflügelt,
herausgefordert und motiviert. Andere wiederum fühlen sich wie
gelähmt, unter Druck gesetzt und irgendwie immer in der Defensive.
Keine dieser beiden Haltungen ist ganz normal oder total
pathologisch. Es gibt aber immer Leute, die Ängste nicht
nachvollziehen können, sich darüber lustig machen, sei es Höhen-
oder Platzangst oder Angst zu sprechen und zu stottern oder Versagensängste, und die sich
demgegenüber selbst als normal betrachten. Ich dagegen rate zur
Vorsicht gegenüber Menschen, die einem scheinbar jovial-aufmunternd
zugestehen, Fehler machten wir doch alle mal und niemand müsse Angst
haben. Man warte erst einmal ab, wie dieselben Leute reagieren, wenn
man tatsächlich mal oder womöglich sogar häufiger Fehler macht und
Erwartungen nicht erfüllt. Wenn man es dann mit jemandem zu tun hat,
für den ausschließlich Leistung im Leben zählt, hat man schlechte
Karten. Gerne wird von solchen Leuten auch schon mal mit dem
Zaunpfahl gewunken, man erwarte ja schließlich am Ende des Monats
auch 100% seines Gehaltes .... Eine Bemerkung, die mit ihrem
bedrohlichen Unterton schon deutlich weniger jovial und aufmunternd
klingt und nicht gerade zur Entspannung beiträgt. Sowas trifft einen desto härter, je mehr man sich bemüht und auf eine früher großzügig zugesicherte Milde vertraut hat. Aber mit dem Feingefühl und bei schönem Wetter vollmundig gemachten Zusicherungen ist das so eine Sache, wenn dunkle Wolken am Himmel aufziehen, d.h. wenn die Leistungen nicht den hoch gesteckten Erwartungen entsprechen.
Auf Biegen und Brechen 100% erreichen zu wollen oder - schlimmer noch - zu müssen, kann zu einer echten Qual werden, an deren Ende doch nur wieder das Scheitern und neuer Druck stehen. Nicht jeder bringt dann die Stärke auf, mit dem Spruch der Bremer Stadtmusikanten die Reißleine zu ziehen: Etwas Besseres als den Tod findest du überall. Will sagen: Dann suche ich mir eben einen anderen Job. So stellte sich das anscheinend auch eine hoch motivierte Vorzeigekollegin vor, die sich selbst wohl als begnadete Motivationstrainerin sieht und deren weiser Wahlspruch lautet: Love it, take it or leave it! Wenn das nur immer so einfach wäre .... Druck erzeugt schon mal Fluchtgedanken. Denen aber spontan zu folgen, ist nicht immer klug. Wo soll es denn besser sein? Wie viele Tausend Paketzusteller beispielsweise würden sonst liebend gern die Brocken hinschmeißen und ihrem Arbeitgeber eine lange Nase zeigen?
Ein Vorgesetzter propagierte einst den 100%-Anspruch, indem er Piloten oder Chirurgen ins Feld führte, von denen man als Passagier oder Patient ja auch bestmögliche Konzentration und Leistung erwarten würde. Damit hat er zweifellos recht. Piloten bilden meines Wissens allerdings eine der wenigen ambitionierten Berufsgruppen, die sich gegen einen Vorruhestand wehren, während geschätzt mindestens 80% aller anderen Berufstätigen sich diesen herbeisehnen. Und ob auch die versiertesten und erfahrendsten Chirurgen nach einem 12-Stunden-Tag noch in der Lage sind, 100% zu leisten, kann man getrost bezweifeln, ganz gleich, was man sich als Patient/in selbst wünschen würde.
Kurzum, nicht jeder und jede ist unter allen Umständen mit der Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit eines Piloten oder Chirurgen gesegnet. Kann man das jemandem zum Vorwurf machen? Ist jeder und jede, der/die diese so hoch gelegte Latte reißt, mithin ein mieser kleiner Versager (eine ebensolche Versagerin), ein träger Faulpelz und Taugenichts, ein Hemmschuh, eine Last, jemand, der "durchgefüttert" wird? Oder bestenfalls ein durch irrationale, krankhafte Versagensängste bedauernswert Blockierter? Oder einer, dem trotz ausreichender Intelligenz eine erwartbare Einsicht und ein zumutbares Engagement undankbarerweise völlig abgehen?
Ich denke, ich werde bei meinem 70%-Ansatz bleiben, so lange es nicht strafbar ist. Sollen sich doch andere in den Burnout treiben lassen. Aber vielleicht ist es mit dem, wie mit Bielefeld oder dem Yeti, es gibt ihn gar nicht und es handelt sich dabei um ein völlig überbewertetes Phänomen verweichlichter Hypochonder, die damit nur unnötig die Wirtschaft und das Gesundheitssystem belasten.