Wiederholungstäter
Immer und immer wieder ist mir das im Leben passiert: Wenn ich neue Leute kennenlerne, gehe ich nach dem ersten Eindruck, den ich von ihnen habe. Gesichtszüge, Mimik, Statur und Figur, Verhalten, Ansichten, Angewohnheiten, Kleidungsstil, Stimme, Humor, Bildungsstand, sprachlicher Ausdruck, sozialer Status usw..
Und immer und immer wieder mache ich die Erfahrung, dass der erste Eindruck durchaus trügen und in die Irre führen kann, dass ich mir ein völlig falsches Bild gemacht habe, mitunter genährt aus Vorurteilen und eigenem Wunschdenken.
Wiederholt habe ich feststellen müssen, dass es ein schwerer Fehler sein kann, Menschen nach Äußerlichkeiten, Oberflächlichkeiten, Belanglosigkeiten zu beurteilen. Damit nimmt man ihnen und sich selbst die Chance, Wertvolles in und an ihnen zu entdecken und schätzen zu lernen. Diese Erkenntnis schützt aber nicht davor, diesen Fehler ständig zu wiederholen. Ich bin durchaus nicht der Weise, der sie soweit verinnerlicht hätte, dass er vor falschen Beurteilungen gefeit wäre. Aber auf eine Täuschung folgt meistens die Ent-täuschung, der Verlust einer Täuschung ist ein Gewinn, wenn auch ein bitterer.
Man selbst möchte ja auch nicht unbedingt nach dem ersten Eindruck beurteilt werden. Vielleicht verspätet man sich, redet sich um Kopf und Kragen, macht einen unangebrachten Scherz, verhält sich ungewollt reserviert, wirkt wenig souverän oder hat noch Essensreste am Mund. Es gibt zahllose Möglichkeiten, bei der ersten Begegnung oder den ersten Begegnungen zu patzen und sich selbst unbewusst und unbeabsichtigt in ein schlechtes Licht zu setzen. Jede/r hat eine zweite Chance verdient. Geben wir sie ihr oder ihm auch immer wirklich?
Warnen kann ich auch nur immer wieder vor großen, überschwänglichen Worten zu bestehenden Freundschaften. Je salbungsvoller die Unverbrüchlichkeit von engen Beziehungen gepriesen wird, desto größer ist das Desaster, wenn sie dann eben doch in die Brüche gehen, vorzugsweise aufgrund irgendwelcher Nebensächlichkeiten. So gab es mal eine Freundin, die in meiner Frau angeblich die lang vermisste und ersehnte Schwester im Geiste sah, eine Seelenverwandte, die der Himmel geschickt zu haben schien. Gemeinsame vergnügliche Abende, Ausflüge, Urlaube, ja sogar die Idee, im Alter gemeinsam in einer Wohngemeinschaft leben zu wollen, konnten nicht verhindern, dass die Sympathie am Ende noch nicht einmal mehr dafür reichte, zur Beerdigung meiner Frau zu kommen. Stattdessen ist die ehemalige Freundin im Sumpf ihrer eigenen Eitelkeit, Ichbezogenheit und Sucht nach Aufmerksamkeit versunken und hat Unzufriedenheit zu ihrem neuen Hobby gemacht. Man lobe nicht voreilig und allzu vollmundig Freundschaften und Freunde, denn das macht das Erwachen aus solcher Selbsttäuschung nur umso brutaler.
Nein,
die Sache mit den inneren Werten, die zählen, ist nicht bloß eine
verzweifelte Selbstbeweihräucherung und ein Trostpflaster für
diejenigen, die vom Schicksal einer vermuteten Mehrheit gegenüber
benachteiligt scheinen. Es ist kein Trick, um sich selbst froh zu
machen. Es stimmt ganz einfach, und Ruhm, Status und eine dicke
Schminkschicht machen nicht den Kern eines Menschen aus. Innere Größe und Liebenswürdigkeit kommen eben auch schonmal gut getarnt und unscheinbar daher.