Ruhe und Gelassenheit
Einen seelischen Zustand von Ruhe und Gelassenheit, Entspanntsein und Ausgeglichenheit halte ich für erstrebenswert. Dahin will ich!
Aber wo gibt es diesen Zustand heute noch? Wer teilt mein Bewusstsein für diese Werte und meine Sehnsucht danach?
Offensichtlich - vorsichtig ausgedrückt - längst nicht jede/r.
An allen Ecken und Enden brechen Konflikte auf und Gräben, unversöhnlich, unüberbrückbar, ohne Empathie, Einsicht, Kompromissbereitschaft und ernsthaftes oder gar gemeinsames, konzentriertes und konzertiertes Streben nach Lösungen. Im Ton übellaunig, dauergereizt, aggressiv, aufgebracht, schon aufs bloße Stichwort in lodernde Rage geratend, vor Wut schäumend. Von der eigenen Sichtweise besessen, keinen Widerspruch duldend, das Gegenüber als unfähig deklassierend, dem anderen verständnislos, hochmütig, abfällig, ja feindselig begegnend, mitunter sogar gewaltbereit. Unkultivierte, fruchtlose TV-Diskussionen, in denen jeder polemisch, giftig und lautstark zeternd auf seinem eigenen Standpunkt beharrt, von medialen Zaungästen lauernd beäugt, die nur die Bestätigung für ihr eigenes festgefahrenes Weltbild suchen und aus sicherer Entfernung, schadenfroher Lust am Streit oder herablassend kopfschüttelnd zuschauen, ohne selbst in der Verantwortung zu stehen, je eine für alle oder wenigstens für eine Mehrheit akzeptable und praktikable Lösung finden zu müssen.
Je komplexer die Probleme, desto bereitwilliger werden aus Halbwissen generierte, untaugliche und unseriöse Patentrezepte verbreitet, von vielen begierig aufgenommen, für fundiert gehalten und einfältig beklatscht.
Zuletzt ist mir das aufgestoßen, als Jan Böhmermann und seine Jünger sich über Dieter Nuhr und seine Anhänger hermachten. Na toll, dachte ich, jetzt fallen die Kabarettisten auch schon übereinander her. Müssen wirklich aus allen möglichen alten Teppichen künstlich neuzeitliche Konflikte geklopft werden? Sind danach auch wirklich alle ganz sauber? - Und doch können wir alle dankbar sein, dass solche Diskussionen in unserem Land möglich sind, ohne für ein unbedachtes Wort womöglich nicht bloß mit einem Bein im Gefängnis zu stehen.
Unablässig unterschwellig schwelende Wut und offener Zank tun mir nicht gut. Meinen Einfluss auf einzelne Meinungsträger, geschweige denn auf die öffentliche Diskussion sehe ich als verschwindend gering an. Meinen individuellen Wunsch nach innerem Frieden aber halte ich für mindestens ebenso legitim wie den nach gesunder Ernährung oder Nachhaltigkeit im Interesse aller.
Ich bin jetzt 60 Jahre alt. Soll ich mich allen Ernstes jeden Tag über jedes neue Streitthema aufregen, mich überall "einbringen", ungefragt und rechthaberisch bei den unpassensten Gelegenheiten meine Meinung kundtun? Wozu? Soll ich womöglich noch am letzten Tag meines Lebens einen Herzinfarkt bekommen, weil ich mich über irgendein Reizthema aufgeregt habe? Muss es mich stören, wenn nonstop auf Krawall gebürstete Zeitgenossen mich als einen naiven, zart besaiteten, harmoniebedürftigen Softy, als "Schlafschaf" oder "Systemling" beschimpfen? Die mir gerade noch einen Hustensaft und einen Tee zugestehen, wenn ich erkältet bin, die es mir aber vorwerfen, wenn ich mich im eigenen Interesse und durchaus nicht aus "Gehorsam" habe impfen lassen? Muss ich mich mit Leuten auseinandersetzen, die den Begriff "Solidargemeinschaft" als kommunistisch verdächtigen? Oder mit solchen, für die das eigene Volk zwar unverzichtbar erst bei Blut, Genen und bestimmten Äußerlichkeiten anfängt, aber schon wieder bei denjenigen unter jenen "Blutsverwandten" aufhört, die diametral anderer Meinung sind?
Unsere Demokratie bietet jeder Strömung die Gelegenheit, auf vielfältige Weise für ihre Ziele zu werben. Wer keine Mehrheit bekommt, sollte die Schuld dafür nicht bei anderen suchen.
Ich spüre: Schon beim Schreiben dieser Zeilen entferne ich mich von meinem eingangs propagierten Ziel. Alles, was dem entgegensteht, tut mir nicht gut. Und meine Zeit läuft. Wenn es mir damit ernst sein soll, werde ich Entscheidungen treffen müssen, die mich meinem Ziel konsequent näher bringen, d.h. meine Ruhe zu erlangen und zu bewahren, und zwar bevor ich (hoffentlich) dereinst ewig in Frieden ruhe.