Projektionen
Manchmal interpretiert man in Menschen, Situationen und Dinge etwas hinein. Man sieht, was man glaubt zu sehen oder was man sehen möchte.
Die eigenen Sehnsüchte, Erfahrungen oder Vorurteile fließen unbewusst in unsere Wahrnehmung mit ein, prägen oder verfälschen sie sogar. Man sagt auch, man projiziert etwas in das Gegenüber hinein, man benutzt es als Projektionsfläche.
Vielleicht geht mir das mit einem bestimmten Bild so, und meine Sichtweise auf dieses Bild verrät mehr über mich, als über das Bild.
Es geht um ein Bild des Fotografen Gerhard Riebicke (1878-1957), vermutlich entstanden in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, Es zeigt zwei junge Frauen, die ausgelassen, nackt und Hand in Hand an einem Strand entlanglaufen.
Natürlich nehme ich als männlicher Betrachter die Tatsache der Nacktheit der beiden durchaus mit Wohlgefallen war, auch wenn ihre Formen nicht heutigen Schönheitsidealen entsprechen mögen. Ich schäme mich dafür nicht, auch nicht als Ehemann. Ich muss mich nicht rechtfertigen. Meine Frau verstand mich und ich bin froh und dankbar, mit keiner anderen verheiratet gewesen zu sein.
Die "nackten Tatsachen" halte ich nicht für das Wesentliche an diesem Foto.
Mich beeindruckt vielmehr die Ausstrahlung vor allem einer der Frauen. Sie drückt Leichtigkeit, Unbefangenheit und Lebensfreude aus, etwas, das sich mit dem heutzutage altertümlich klingenden Begriff Anmut beschreiben ließe.
Und diese kommt - wie man heute sagen würde - recht natürlich, authentisch rüber. Das Foto ist aus der Bewegung entstanden, ist eine Momentaufnahme, es wirkt nicht gewollt lasziv, provokant oder gestellt, spekuliert nicht auf die Lüsternheit etwaiger Betrachter und zielt nicht auf deren Stimulation ab. Es wirkt bei aller Hemmungslosigkeit unschuldig - und in meiner Vorstellung von der Zeit seiner Entstehung für diese ungewöhnlich. Seine Freizügigkeit wirkt nicht anzüglich, voyeuristisch oder gar anstößig oder pornografisch. Es scheint mir noch nicht einmal in den Bereich jener Sparte der Fotografie zu gehören, welche erotisch genannt wird.
Um es nochmals ganz deutlich zu sagen: Ich leugne keineswegs, als Mann einen anderen Blick auf die Szene zu haben, als eine Frau ihn hat. Aber so wie Frauen sich zuweilen ärgern, auf bestimmte Äußerlichkeiten reduziert zu werden, ärgere ich mich über die Unterstellung, ich sei in primitiv-animalischer Weise einzig auf anatomische Gegebenheiten fokussiert.
Naturgemäß sind Leichtigkeit, Unbeschwertheit und Unbefangenheit bei jungen Menschen noch am ehesten zu finden, bevor das Leben sich anschickt, ihnen Flausen, Träume, Illusionen und Idealismus auszutreiben. Und wer wollte ernsthaft bestreiten, dass man in der Jugend besser aussieht als in fortgeschrittenem Alter? (All jenen, die meinen, aus meiner kleinen Bildbesprechung den Schluss ziehen zu müssen, ich stände als "geiler alter Bock" auf "junges Gemüse", winke ich gerne aus der Ferne zu. Wenn ihr denn meint, bringt eure Töchter in Sicherheit, aber bitte euch gleich mit.)
Ich zeige hier nur einen Ausschnitt des Bildes (Ja, ich stehe auf Ausschnitte ...), der das enthält, worauf es mir ankommt. Es kann sich ja jeder selbst das ganze Bild aus dem Netz suchen.

Der Arbeitsschwerpunkt Gerhard Riebickes lag in der Sport- und Freikörperkultur-Fotografie und er war ein Chronist der Reformbewegung, deren Credo man verkürzt mit "zurück zur Natur" wiedergeben kann und von der auch noch der Name der Reformhäuser herrührt. Auch aus diesem Kontext heraus wird klar, dass es dabei keineswegs um provokantes Zur Schau stellen, um Exhibitionismus oder sexuelles Werben ging, sondern einfach darum, frei von Zwängen und natürlich zu sein, d.h. im Einklang mit der Natur, auch mit der eigenen Natur. Die Verwechslung von Nudismus mit Erotik ist vor allem ein Phänomen unserer Tage. Nacktheit kommt heute fast ausschließlich in der Verknüpfung mit Sexualität vor.
Ein Lächeln wie das auf dem Foto, aus einem schlichten Vergnügen heraus, aus Freude geboren, nicht aufgesetzt und nicht berechnend, ein solches Lächeln finde zumindest ich heute fast nirgendwo mehr. Ein Lächeln ist heute oft verkrampft, künstlich und gilt womöglich gar als uncool und weich. Dabei ist zu beneiden, wer so lächelt. Ich selbst lächle zugegebenermaßen eher selten, wahrscheinlich zu selten. Und möglicherweise liegt darin auch meine Affinität für dieses Lächeln begründet.
Davon ganz abgesehen kann ein nackter Körper auch einfach nur schön sein. Es gibt durchaus auch (heterosexuelle) Betrachterinnen, die weibliche Akte als ästhetisch empfinden. Warum soll ich mir dann als Mann diesen höhnischen augenzwinkernden Zweifel oder dieses konspirative Grinsen manch derber Zotenerzähler gefallen lassen, wenn ich für mich dasselbe Empfinden beanspruche?
Ist da nun das, was ich in dem Foto sehe? Oder deute ich etwas hinein? Ist das Ursprungsbild unanständig, mein Gefallen daran sexistisch und von niederen Instinkten geleitet? Mache ich mir zu viele, womöglich völlig unangebrachte Gedanken? Oder wie es weniger sensible Zeitgenossen manchmal ausdrücken: Hat der sonst keine Probleme? Doch, habe ich. Eines davon sind eben solche Zeitgenossen.