Der Mann im Fenster



Ein Fensterputzer stürzt bei seiner Arbeit an der Glasfassade eines Bürohochhauses ab und kann sich im Fallen gerade noch am Rahmen eines offen stehenden Fensters festklammern. Die Angestellten im Büro nehmen ihn nicht zur Kenntnis und arbeiten ganz normal weiter. Irgendwann bemerkt ihn doch jemand und kommentiert seine Lage mit den Worten "Kleiner Tolpatsch, was?" ohne Anstalten zu machen, ihm zu helfen.

Diese Szene kam mal in einem jener Kurzfilme vor, die in den 70-er Jahren auf einem der drei damals verfügbaren Fernsehsender regelmäßig gezeigt wurden. Sie ist mir wegen ihrer offenkundigen Absurdität und Tragikomik bis heute in Erinnerung geblieben.

Mehr noch: Inzwischen erkenne ich darin durchaus Parallelen zum realen Leben.

Die Situation ist von einem ganz sicher nicht geprägt, was heute immer wieder sehr nachdrücklich propagiert und eingefordert wird: Empathie, Einfühlungsvermögen. Ob man allerdings eine Form von Blindheit mit Appellen heilen kann, bleibt fraglich. Mag sein, dass man ein Bewusstsein schärfen kann, eine fehlende Wahrnehmung wohl eher nicht.

Ich weiß nicht, wie oft ich mich in meinem Leben gefühlt habe, wie jener Fensterputzer. Ich weiß aber auch nicht, wie oft in der Wahrnehmung meiner Mitmenschen ich derjenige war, der sie in ähnlicher Weise hängen ließ. Was ich aber weiß, ist, wie schwer ein Perspektivwechsel, eine Änderung der Betrachtungsweise - in beiden Richtungen - sein kann, Stichwort "Opferrolle": Man kann sich daran gewöhnen, man kann sich darin einrichten und suhlen, man kann sie sogar liebgewinnen. Und es ist nicht immer ganz einfach, sich davon zu lösen. Manchmal funktioniert das mit dem sprichwörtlichen "Krönchen richten" nach einem Sturz nicht, denn das "Krönchen" ist bereits längst im Abgrund verschwunden und das Sich aufrappeln scheint gleichermaßen aussichtslos, weil ständig neues Ungemach droht.

Ist wirklich jeder "seines Glückes Schmied", der Fensterputzer also an seinem Unglück selbst schuld? Und, wenn es denn so wäre, würde das die Büroangestellten von ihrer Verantwortung und Pflicht zur Hilfeleistung entbinden? Gibt es eventuell noch Versäumnisse Dritter, etwa hinsichtlich des Arbeitsschutzes?

Wie dem auch immer sei, das Lachen über die groteske Situation bleibt einem im Halse stecken, wenn man sich in die Lage des Fensterputzers versetzt. Und gegenseitiges, völliges Unverständnis und Untätigkeit führen gewiss zu keiner Verbesserung der Situation und machen Opfer und außen stehende Betrachter(innen) fassungslos. Ähnliches gibt es auch im realen Leben, bezogen auf Einzelschicksale, aber auch auf das Verhalten gleich ganzer gesellschaftlicher Gruppen.

Im Leben läuft nicht alles glatt. Oder es läuft zu glatt, bis dass man dabei ausrutscht. Jeder kennt und fürchtet das Gefühl des Scheiterns. Jeder lernt irgendwann schmerzhaft das Gefühl von Verlorenheit, Isolation und Ausgrenzung kennen. Jeder wird irgendwann mit dem Unverständnis, der Gleichgültigkeit oder der Häme seiner Mitmenschen konfrontiert, mit Vorurteilen, Ablehnung und Hass. Und längst nicht jeder bekommt eine zweite Chance. Die mit Todesangst gepaarte Hoffnung auf eine solche bleibt dem Fensterputzer ja noch, so lange er sich halten kann. Doch nicht jeder kann sich aus misslicher Lage mit eigener Kraft befreien. Darf jemand, der Hilfe verweigert, dem Notleidenden obendrein auch noch vorwerfen, dass ihm die Kraft zur Selbsthilfe fehlt? Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott?

Es gibt durchaus Situationen im Leben, deren Muster dem der Situation des Fensterputzers ähnelt, wenn auch in der Mehrzahl der Fälle in deutlich weniger dramatischer Art und Weise. Meistens gelingt es uns irgendwann, solche Erlebnisse hinter uns zu lassen und das Gesetz der Serie zu durchbrechen.

Wie die Sache im Film ausgegangen ist, kann ich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Ich glaube, der Zuschauer (und die Zuschauerin) wurde/n letztlich über den Ausgang im Unklaren gelassen. Es gab kein Erwachen aus einem Albtraum, keinen bösen Schluss und kein Happy End. Es wurde ausgeblendet, ohne dass sich die Lage in irgendeiner Weise aufgelöst hätte.

Nun, im wirklichen Leben gibt es ja auch nicht immer eine befriedigende Lösung.